Architektur der 60er/70er-Jahre unter Denkmalschutz stellen?

Ob der wilde Süden oder der kühle Norden, hier trifft man sich zwischen den großen Treffen
Lutz
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[QUOTE=Die Luftgitarre;301460]Um mal zu illustrieren, was ich an den Bauten der 60er und 70er Jahre unter Denkmalschutz stellen würde, zwei Beispiele aus Hamburg:

1.) Die City Nord

Geplant als "Bürostadt im Grünen" und erbaut 1964 bis 1974. Sie gehört der Zeit der Großraumbüros an und gilt daher heute als überholt und noch schlimmer: als unhanseatisch! Aber ich mag diesen Kontrast zwischen hochaufragenden Stahl-Glas-Beton-Bauten (dabei keineswegs immer nur quadratisch!) und ausgedehntem Park.

[IMG]http://gartenhistorie.de.dd10100.kasser ... 06-web.jpg[/IMG]

[IMG]http://pinzko.de/Hamburg/0399_Nordstadt.jpg[/IMG]


[IMG]http://www.architekturarchiv-web.de/bil ... y_nord.jpg[/IMG] [IMG]http://www.bildarchiv-hamburg.de/hambur ... y_nord.jpg[/IMG]



2.) Der Hauptcampus der Universität (Van-Melle-Park)

Erbaut 1957 bis 1963. Noch nicht so monumental und futuristisch wie die City Nord, aber ein ein Stück Nachkriegsgeschichte. Das Audimax erinnert an einen Nierentisch, die Wiese hat die Form eines Hexanons, der Brunnen ist in Beton eingefasst und das damals trendige Bäsch-Orange der Hauswände leuchtet warm in der Sonne.


[IMG]http://www.uni-hamburg.de/studieren-mit ... 30X300.jpg[/IMG]


[IMG]http://www.mittelalter.uni-hamburg.de/o ... l-turm.jpg[/IMG]

[IMG]http://farm4.staticflickr.com/3455/3967 ... dc8c_z.jpg[/IMG]


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Bei dem Thema 60er/70er-Jahre-Architektur spielt natürlich auch rein, dass diese mit Kindheit und heile Welt (Nachkriegsproperität, Fortschrittsglauben, sozialiberaler Schlendrian) assoziiert ist. Ein Kumpel von mir, der noch 70er-affiner ist, brachte das mal in Bezug auf unserer damalige Schule (fertiggestellt Anfang der 70er) einmal fast poetisch zum Ausdruck: "Wie in den Nachmittagsstunden immer das Licht durch diese alten orangen Vorhänge auf den Linoleumboden fiel ..." . Dazu dann noch die Anfangsmelodie aus den Drei ??? :D[/QUOTE]


Echt? Finde ich beide ziemlich übel. Wobei da die Uni noch etwas die Nase vorn hat (inkl MensaInnen) ;)
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waschbaer
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Hochinteressantes Thema:

In Augsburg ist die Kongresshalle (Typischer 70er-Jahre-Bau zu den Olympischen Spielen, die zum Teil auch nach Augsburg ausgelagert wurden) mittlerweile renoviert worden und steht auch unter Denkmalschutz. Das Gleiche gilt für den zeitgleich errichteten Hotelturm, in welchem sich heute das Augsburger Dorint Hotel befindet.

[IMG]http://www.augsburger-allgemeine.de/img ... y25148.jpg[/IMG]

Mein altes Gymnasium ist auch so ein Bau mit der typischen Architektur. Ich habe dort in den späten 80ern mein Abitur gemacht, allerdings wurde es in den 70ern erbaut.

[IMG]http://www.wvb-gym.de/cont/cms/upload/s ... schule.jpg[/IMG]

Auch wenn die meisten Bauten aus unserem heutigen Empfinden heraus sicherlich nicht mehr unter die Rubrik "herausragend" oder gar "optisch ansprechend" fallen, finde ich auch, dass man sie durchaus unter Denkmalschutz stellen sollte, denn auch sie zeigen einen gewissen Zeitgeist und dokumentieren die Nachkriegsarchitektur.

Bauten, die mir aus dieser Zeit ganz gut gefallen sind beispielsweise:

Bierpinsel in Berlin-Steglitz:

[IMG]http://upload.wikimedia.org/wikipedia/c ... Berlin.jpg[/IMG]

Haus Sindlingen in Frankfurt:

[IMG]http://upload.wikimedia.org/wikipedia/c ... lingen.jpg[/IMG]

und

in meiner Lieblingsstadt London das Nationatheater, welches aber vor allem innen für mich total sehenswert ist.

[IMG]http://upload.wikimedia.org/wikipedia/c ... ntre02.jpg[/IMG]


Schrecklich finde ich hingegen so mache Bausünde eines Le Corbusier, der Sachen erbaut hat, die ich einfach als architektonische Scheußlichkeit klassifizieren würde. Beispielhaft sei hier nur das Kloster Saint-Marie de la Tourette in der Nähe von Lyon, das für mich aussieht, wie wenn es extrem dringend renovierungsbedürftig ist und in dem ich mir vorstellen kann, dass die dortigen Dominikanermönche architektonisch depressiv werden.

[IMG]http://upload.wikimedia.org/wikipedia/d ... busier.jpg[/IMG]
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Die Luftgitarre
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Um mal einzugrenzen, welche Art von Nachkriegsmoderne ich meine. Es gibt natürlich viele Betonklötze, die einfach nur erdrückend wirken. Wichtig finde ich bei der Nachkriegsmoderne den Aspekt von Leichtigkeit und viel Platz.

Dazu gehören v. a. große Fensterfronten und Überdachungen, die von dünnen Pfeilern getragen werden:

[IMG]http://upload.wikimedia.org/wikipedia/c ... orf%29.jpg[/IMG]


Hochhäuser mehr wie in den späten 50ern / frühen 60er Jahren: jeweils einzeln auf der Wiese stehend und mit etwas Fassadenstruktur und Farbe (nicht einfach nur graue Klötze aneinandergereiht).

[IMG]http://www.ndr.de/regional/mecklenburg- ... tgross.jpg[/IMG]


Und an zentralen Plätzen dann geometrisch versetzte Anordnungen von Gebäuden, dazwischen Fußgängerbrücken, Brunnenbecken, Plätze (so wie auf diesem Bild, nur nicht in diesem schnell schmuddelig wirkenden Hellgrau).

[IMG]http://einestages.spiegel.de/hund-image ... nt_xxl.jpg[/IMG]
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waschbaer
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Dazu passend zum Thema:

SWR2 Forum (28. Mai, 17.05-17.50 Uhr)
Abreißen oder bewahren? - Der Streit um die Architektur der 60er Jahre
Es diskutieren:
Prof. Dr. Meinhard von Gerkan, Architekt, Hamburg
Prof. Dr. Falk Jaeger, Architekturkritiker, Berlin
Prof. Dr. Klaus Jan Philipp, Institut für Architekturgeschichte, Universität Stuttgart
Gesprächsleitung: Susanne Kaufmann
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Die Luftgitarre
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[QUOTE=waschbaer;301488]Dazu passend zum Thema:

SWR2 Forum (28. Mai, 17.05-17.50 Uhr)
Abreißen oder bewahren? - Der Streit um die Architektur der 60er Jahre
Es diskutieren:
Prof. Dr. Meinhard von Gerkan, Architekt, Hamburg
Prof. Dr. Falk Jaeger, Architekturkritiker, Berlin
Prof. Dr. Klaus Jan Philipp, Institut für Architekturgeschichte, Universität Stuttgart
Gesprächsleitung: Susanne Kaufmann[/QUOTE]

Bin mal gespannt. Die Frage drängt sich ja langsam auf und es scheint auch unter Stadtplanern da noch keinen klare Meinung zu geben.

Hier ein Zeitdokument, welches ich sehr spannend finde: Der Bau und Erstbezug des Hochhausviertels Neuperlach bei München 1968 bis 1975. Die Amateueraufnahmen fangen sozusagen den Höhepunkt der für uns heute fremden Hochhausbegeisterung ein. Die schlechte Bildqualität, die Jazz-Untermalung, die biederen 70er-Jahre-Klamotten ... und Hochhauseingänge, an denen man noch keine Grafittis sieht.

Neuperlach 1968 bis 1975, Teil 1 von 2 - YouTube

Neuperlach 1968 bis 1975, Teil 2 von 2 - YouTube
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Lexi
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[QUOTE=Die Luftgitarre;301492]Hier ein Zeitdokument, welches ich sehr spannend finde: Der Bau und Erstbezug des Hochhausviertels Neuperlach bei München 1968 bis 1975[/QUOTE]

Da geht es ja mehr um Raumplanung als um Architektur.

Aber die Hochhäuser kommen mir im Film besonders gigantisch vor. Auf Google Earth sieht es auch ziemlich groß aus, etwa 2,5 km lang, das ganze. War von euch schon jemand in Neuperlach?
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waschbaer
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@Lexi

Ich bin ab und an in München Neuperlach, weil dort auch die Bayerische Landeszentrale für Moderne Medien ihre Niederlassung hat und ich dort ab und an auf Fortbildungen bin. Allerdings ist dieses Gebäude nicht die typische Hochhausarchitektur.

Ich hatte auch mal eine Freundin, die in Neuperlach gewohnt hat während ihres Studiums. Sie wunderte sich, dass sie sehr schnell und günstig eine Wohnung bekam, meinte aber mehrfach, dass sie dort Abends ungern vor die Tür geht und froh war, dass ihre Wohnanlage eine Tiefgarage dabei hatte und sie so, meistens nie zu Fuß nach "außen" gehen musste nach Anbruch der Dunkelheit. Und hier reden wir noch von den 1990ern. Inwieweit sich die Lage dort mittlerweile noch "verschärft" hat kann ich nicht sagen, aber ich weiß von zwei Kollegen, dass sie dort an Schulen unterrichtet hatten und möglichst schnell wieder weg wollten. Welche Gründe sie allerdings dazu bewegt hat, weiß ich nicht.

Neuperlach empfinde ich als recht hässlichen Stadtteil. Nicht einmal das große Einkaufszentrum (PEP) finde ich sonderlich gelungen, auch wenn diese erst in den frühen 80ern entworfen wurde.

@Luftgitarre

Ich werde mir die Sendung auch anhören oder wenn ich es nicht kann, dann den dazugehörigen Podcast anhören. Die Moderatorin ist übrigens meine Cousine.
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waschbaer
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Auch noch so ein Bild aus Augsburg. Im Hintergrund die größte Augsburger Kirche St. Ulrich, in welcher auch der gleichnamige Heilige begraben ist. Die Kirche mit dem Zwiebelturm ist typisch bayerisch-schwäbische Architektur.

Davor ein Gebäude, welches die Diözese in den späten 60ern hat erbauen lassen und welches eine Mischung aus Hotel, Tagungsgebäude und Verwaltungsgebäude ist. Viele Leute sagten damals, dass sich die Architektur "beißen" würde und eben nicht zur dahinterstehenden Kirche passt. Mir hingegen gefällt es sogar recht gut.

[img]http://upload.wikimedia.org/wikipedia/c ... gsburg.jpg[/img]
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[QUOTE=Lexi;301493]
Aber die Hochhäuser kommen mir im Film besonders gigantisch vor. Auf Google Earth sieht es auch ziemlich groß aus, etwa 2,5 km lang, das ganze. [/QUOTE]

Allerdings, es gibt Hochhäuser ... und es gibt HOCHhäuser! :D

Die ersten Wohnhochhäuser, so etwa Anfang und Mitte der 1960er, waren meist nur acht, höchstens mal zehn Stockwerke hoch und sie standen jeweils einzeln, weiträumig von Wiesen oder einem geplasternen Platz umgeben. Und sie hatten meist eine Backsteinverkleidung und eine stärker strukturierte Fassade. Solche Gebäude pass(t)en durchaus in das entspannte Stadtrand-Ambiente.

[IMG]http://www.heimatsammlung.de/topo_unter ... ig_264.jpg[/IMG]



Aber so zwischen 1968 und 1975 drehten die Architekten und Stadtplaner dann langsam ab. Zwölf Stockwerke, Vierzehn, Sechszehn ... und v. a. standen die Hochhäuser zunehmend in geschlossenen Reihen oder labyrinth-ähnlichen Ketten (ob aus Gründen der Statik, des Platzmangels oder gestiegener Bodenpreise, vermag ich nicht zu sagen). Zusammen mit den nunmehr üblichen Beton-/Plattenfassaden wirkte das zunehmend massiv und erdrückend.

[IMG]http://www.kgi.ruhr-uni-bochum.de/proje ... k6t3a3.jpg[/IMG]

Wenn dann noch grauer Himmel aufzieht ... :er

Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob bei diesen späteren Hochhausprojekten wirklich nur ein überdrehter Futurismus am Werke war oder ob nicht hinter vorgehaltener Hand bereits die kostengünstige Abschiebung der Unterschicht im Vordergrund stand. Der reformerische "Licht-&-Luft"-Gedanke der ersten Trabantenstädte war ja immer kompakteren Bauplänen gewichen. In Hamburg fällt jedenfalls auf, dass die beiden größen Betonghettos (Osdorfer Born und Kirchdorf Süd) niemals eine direkte U-Bahn-Anbindung bekommen haben. *g*
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Hier noch zwei echt krasse Werbe-Photos aus den 70ern, die illustrieren, wie anders die Hochhausghettos ganz am Anfang wahrgenommen wurden ...


Ansichtskarte aus Berlin :D

[IMG]http://4.bp.blogspot.com/_dRWK12giSE4/T ... sstadt.jpg[/IMG]





Sommer-Idylle in Berlin-Gropiusstadt :zahn:

[IMG]http://www.bz-berlin.de/multimedia/arch ... 306518.jpg[/IMG]


Bereits 1977 inspirierte die moderne Planstadt im Süden Berlins David Bowie zu dem morbiden Instrumentalstück "Neukölln" (B-Seite von "Heroes"), bundesweit bekannt wurde der Stadtteil dann durch die Christiane-F.-Geschichte. Spätestens als 1981 die Verfilmung von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" in die Kinos kommt, war das Image der Siedlung gekippt. Diese Sequenz hier markiert vielleicht den Beginn einer veränderten Wahrnehmung der Trabantenstädte in der Bundesrepublik: Beton, kaum Menschen zu sehen, kaltes und zugleich funzeliges elektrisches Lichts. In weniger als 10 Jahren hatte der Futurismus der Planstadt einen nicht vorhergesehenen düsteren Touch bekommen.

Christiane F.We Children from Bahnhof Zoo1981(part 1) - YouTube
(Min 1:20 bis 3:20)
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