30 Jahre Privatfernsehen in Deutschland

Ob der wilde Süden oder der kühle Norden, hier trifft man sich zwischen den großen Treffen
Die Luftgitarre
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Am 1. Januar 1984 ging SAT1 (zunächst noch unter dem Namen PKS) auf Sendung, am 2. Januar 1984 folgte RTL+.

[video=youtube;o0hikk6P7LY]http://www.youtube.com/watch?v=o0hikk6P7LY[/video]

Dass das Kabelpilotprojekt PKS/SAT1 zuerst in Ludwigshafen startete und Ludwigshafen zugleich die Heimatsstadt von Helmut Kohl war, hing zwar nur indirekt zusammen, war aber doch symbolisch passend: Denn es war die CDU gewesen, die sich schon seit den 70ern für die Zulassung privater TV-Sender in der Bundesrepublik eingesetzt hatte. Zwar gab es gerade auch unter Konservativen die Befürchtung, dass ein kommerzielles Fernsehen zu allgemeiner Sittenlosigkeit führen würde (Schmuddelfilme, reißerische und sklandallüsterne Magazine ect.), aber insgesamt überwog das wahlstragetische Kalkül: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen galt als SPD-verseucht ("Rotfunk"), private Konkurrenzsender hingegen würden unter dem Einfluss von Leo Kirch, Springer-Verlag und Bertelsmann-Stiftung ganz überwiegend CDU-freundlich sein. Anfang der 80er Jahre hatte es hierüber ein regelrechtes politisch-juristisches Tauziehen gegeben: Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte 1981 erstmals ausdrücklich die Zulässigkeit privater Fernsehsender bestätigt, aber Bundeskanzler Schmidt meinte, Privatsehen sei "gefährlicher als Kernenergie", und die SPD fand Tricks die Verkabelung der Haushalte immer wieder zu verzögern. Der tatsächliche Start des Privatsfernsehens 1984 war also nicht zuletzt Folge des Regierungswechselns in Bonn im Oktober 1982.

In den ersten vier, fünf Jahren erreichte das Privatfernsehen in Deutschland nur wenige Haushalte, aber in den 90er Jahren hatte es in der Tat einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die öffentlichen Debatten und das Meinungsklima in Deutschland. "Innere Sicherheit", "Asylmissbrauch", "Sozialschmarotzer", "Reformstau" - Leo Kirch, Springer-Verlag und Bertelsmann-Stiftung gaben die Diskussionsrichtung vor, die SPD lief hinterher. Bedeutsamer als die eigentlichen Nachrichtensendungen auf den Privaten waren vermutlich die scheinbar unpolitischen Krawall-Talkshows und Reality-Shows, in denen wahlweise entweder nach dem Muster der Sekundärstigmatisierung die Unterschicht gegen die unterste Unterschicht gehetzt wurde oder das Bedürfnis frustrierter Couchsitzer etwas nach Dschungelcamp- und Bigbrother-Schadenfreude gestillt wurde oder die Hoffnung der Kevins und Chantals auf Karriere als Superstar oder Topmodel (wenn sie nur genügend "an sich arbeiten" und Unterwürfigkeit gegenüber Dieter Bohlen und Heidi Klum zeigten) wachgehalten wird.

Mittlerweile gibt es auch unter manchen Konservativen wohl das Gefühl, mit dem Privatfernsehen "ein Monster erschaffen" zu haben: Klassische Bildungsinhalte wurden abgewertet, Tabu-Themen wie S.ex oder Familienstreit ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt, Anglismen-Neusprech, Solarbräune und ewig jugendliche Botox-Gesichter setzten neue Maßstäbe. Allerdings würde ich nicht sagen, dass durch das Privatfernsehen tatsächlich das durchschnittliche Bildungsniveau gesenkt wurde. Auch vor 1984 gab es auf ARD und ZDF jede Menge seichte Unterhaltung ("Dalli Dalli", "Wetten daß", "ZDF-Hitparade", Spielfilme mit Peter Alexander, Uschi Glas, Heinz Rühman und co., Übertragungen vom Kölner Karneval usw.) und die Bildungsinhalte, die auf den Dritten gesendet wurden, hatten wohl auch damals nicht besonders hohe Einschaltsquoten (und außerdem gibt's heute ja auch 3sat, Phoenix und arte). Es ist nur so, dass man bei der Präsentation schlichter Unterhaltung jetzt keine Etikette und keine Tabus mehr beachten muss. Wobei es natürlich eine Ironie der Geschichte ist, dass am Beginn des Privatfernsehens Helmut Kohls "geistig-moralische Wende" stand und die Entwicklung jetzt beim Würmer-essen im Dschungelcamp angekommen ist. :zahn:
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[video=youtube;RkNddCXSLvM]http://www.youtube.com/watch?v=RkNddCXSLvM[/video]
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Heiko2609
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Sehe gerade im Programmheft von Deutschlandfunk/Deutschlandradio die Ankündigung der heute laufenden Sendung "Zeitfragen" zum Thema 30 Jahre Privatfernsehen in Deutschland.
Damals ist die Einführung der Privatsender vor allem von CDU/FDP Seite gefördert worden. Ab 1982/83 gab es ja auch eine schwarz/gelbe Regierung die zuvor in der Opposition war und sich scheinbar über den "Parteienrundfunk" von ARD und ZDF geärgert hatte; würde ich jetzt mal so vermuten.
Und Helmut Kohl wird zitiert das man keinen Tatort schauen könne ohne auf soziale Probleme gestoßen zu werden.
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Lexi
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[QUOTE=Heiko2609;304826]die zuvor in der Opposition war und sich scheinbar über den "Parteienrundfunk" von ARD und ZDF geärgert hatte; würde ich jetzt mal so vermuten.[/QUOTE]

Schon Adenauer sah seine Felle davonschwimmen und hat ja auch fast ein Privatfernsehen in die Welt gesetzt. So ganz haben die Pläne dann aber nicht funktioniert: Die Werbewirtschaft wollte ihre Spots auch SPD-Wählern zeigen und es war nicht so einfach, erst einmal unionsbegeisterte Journalisten zu finden, die mehr als ein Satz geradeaus sprechen konnten.
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Stefan Rammler
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Es gab wohl vor den Privaten seichte Unterhaltung, keine Frage.
Allerdings gab es einen großen Unterschied zu heute: Es gab keine Millionengewinne, aber die Kandidaten wurden
respektvoll behandelt. Ein Hans Rosenthal hätte niemanden vor der Kamera lächerlich gemacht und bei Kuhlenkampff musste man keine Krokodilsgemächte essen oder kopfüber in einen Kübel voller Kacke springen. Wenn Klaus Kinski in einer Show gepöbelt hat war das noch ein handfester Skandal, heute gehört so etwas schon zum guten Ton. :wer:

Ausserdem waren die Prominenten noch echte "Künstler", heute gelten bei RTL ja schon die Mädels des Bätscheler und sämtliche DSDS Teilnehmer als Prominenz.
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Die Luftgitarre
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[QUOTE=Stefan Rammler;304863]Es gab wohl vor den Privaten seichte Unterhaltung, keine Frage.
Allerdings gab es einen großen Unterschied zu heute: Es gab keine Millionengewinne, aber die Kandidaten wurden
respektvoll behandelt. Ein Hans Rosenthal hätte niemanden vor der Kamera lächerlich gemacht und bei Kuhlenkampff musste man keine Krokodilsgemächte essen oder kopfüber in einen Kübel voller Kacke springen.[/QUOTE]

Stimmt, diesen Demütigungs- und Schadenfreude-Aspekt gab es im damaligen Fernsehen noch nicht. Das kam glaube ich im Privatfernsehen erst nach und nach, so in der zweiten Hälfte der 90er (in Übernahme amerikanischer TV-Formate). Davor beschränkte sich das dt. Privatfernsehen auf harmlose Blödeleien und etwas nackte Haut.

[QUOTE] Wenn Klaus Kinski in einer Show gepöbelt hat war das noch ein handfester Skandal, heute gehört so etwas schon zum guten Ton. :wer: [/QUOTE]

Wobei die Vorstellung sehr amüsant ist: Dumpfbacke Vera-am-Mittag interviewt einen ohnehin schon leicht grummeligen Klaus Kinski ... und versucht diesen dann mit einem vermeintlich geistreichen Scherz über seinen letzten Film aus der Reserve locken ... ! *autsch*
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Stefan Rammler
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[QUOTE=Die Luftgitarre;304868] Davor beschränkte sich das dt. Privatfernsehen auf harmlose Blödeleien und etwas nackte Haut.
[/QUOTE]

Genau, die Länderpunkte und Hühner-Hugo :D

Die Anfangszeiten der Privaten sind schon fast wieder vergessen. Damals gab es noch Ansagerinnen, Frühstücksfernsehen mit Wolf-Dieter Hermann (Sat1) und das Gewinnspiel mit Zocker Salvatore.
Bei SAT1 hat man Ende der 80er keineswegs auf jugendliche Zuschauer gesetzt. Dort wurden ständig Sachen wie uralte Heimatfilme oder Edgar Wallace gezeigt.
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Lutz
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[QUOTE=Die Luftgitarre;304868]Wobei die Vorstellung sehr amüsant ist: Dumpfbacke Vera-am-Mittag interviewt einen ohnehin schon leicht grummeligen Klaus Kinski ... und versucht diesen dann mit einem vermeintlich geistreichen Scherz über seinen letzten Film aus der Reserve locken ... ! *autsch*[/QUOTE]

Uiuiui - man beachte wie wenig Kinski brauchte um auszurasten :D

[video=youtube;g0kHGSc8GVw]http://www.youtube.com/watch?v=g0kHGSc8GVw[/video]


[QUOTE=Die Luftgitarre;304792]In den ersten vier, fünf Jahren erreichte das Privatfernsehen in Deutschland nur wenige Haushalte, aber in den 90er Jahren hatte es in der Tat einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die öffentlichen Debatten und das Meinungsklima in Deutschland. "Innere Sicherheit", "Asylmissbrauch", "Sozialschmarotzer", "Reformstau" - Leo Kirch, Springer-Verlag und Bertelsmann-Stiftung gaben die Diskussionsrichtung vor, die SPD lief hinterher. Bedeutsamer als die eigentlichen Nachrichtensendungen auf den Privaten waren vermutlich die scheinbar unpolitischen Krawall-Talkshows und Reality-Shows, in denen wahlweise entweder nach dem Muster der Sekundärstigmatisierung die Unterschicht gegen die unterste Unterschicht gehetzt wurde [/QUOTE]

...also wie heute in BLÖD und auf RTL2 gegen ALGII-Empfänger...

Daaamals (TM) hatten die Privaten übrigens einen echten Einfluss auf die Sprache. Während ich mich in den 70s und 80s noch über die Wirkung von MAD freute (lechz, sabber), fingen User in der Mailboxszene angelehnt an die gleichnamige (?) RTL (?) Sendung plötzlich ständig an was von "Einspruch" zu faseln. Fand ich daaamals (TM) ultrapeinlich (die User und die Sendung).

Aber es gab auch tolle Sachen wie dieses legendäre Interview auf Tele 5 mit Käthe B 1988. Das war noch Zeiten, als sogar in TV-Studios geraucht wurde - wohlmöglich sogar verbotene Substanzen (wie mir Norbert Hähnel schrieb sogar sehr wahrscheinlich)? :D

[video=youtube;PvE5nJt-His]http://www.youtube.com/watch?v=PvE5nJt-His[/video]
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Arnold
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Wahnsinn wie sich das alles verändert hat und das man diese Veränderung erst wahrnimmt, wenn man so direkt vergleicht ;)
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Stefan Rammler
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[QUOTE=Arnold;305052]Wahnsinn wie sich das alles verändert hat und das man diese Veränderung erst wahrnimmt, wenn man so direkt vergleicht ;)[/QUOTE]

Wie es aussieht muss man dazu youtube befragen..
Leider hat RTL seine Jubiläumssendung zu sehr auf die zuschauende Jugend gebürstet :tob:
Da gab es viel zu viel Zeugs aus den letzten Jahren zu sehen, statt mehr Rückblicke aus der Anfangszeit zu zeigen.
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